Es ist Sommer in Stralsund, Sommer 2018, eine Freundin, die in Stralsund aufgewachsen ist, empfiehlt mir einen Stadtrundgang mit Nachtwächter. Ich bin ja immer eher solo unterwegs, aber ich probiere das mal aus. Weglaufen kann ich ja jederzeit.
Wir treffen uns am Alten Markt, spätabends um 9 Uhr, wenn es immer noch nicht dunkel ist. Aber egal, die Uhr sagt, es ist Nacht, also muss der Nachtwächter arbeiten. Eine einsame Arbeit, die im Mittelalter aufkam mit dem Entstehen der Städte. Der Wächter patrouillierte durch die Straßen und Gassen, warnte vor Feinden, Dieben und Feuer und machte sich bei der schlafende Bevölkerung beliebt, in dem er laut die Stunden ansagte, nicht so sehr, damit die schlafende Gemeinde wusste, wann sie nicht mehr schlafen musste, sondern eher zur Bestätigung, dass er nicht schläft. Er durfte verdächtigte Personen befragen und festnehmen und überwachte das Verschließen von Haustüren und Stadttoren. Nachtwächter erwiesen der Gesellschaft einen wichtigen Dienst, wie viele Häuser wären niedergebrannt, hätte nicht der Mann mit der Laterne, dem Signalhorn und der Hellebarde gerufen: Feurio, Feurio, erwacht! Zum Dank dafür war er gut bezahlt und genoss hohes Ansehen, wie der Abdecker und der Henker. Nicht. Obwohl sich da auch heute nicht viel geändert hat, Wach- und Sicherheitskräfte werden schlecht bezahlt und verächtlich angesehen.
Heute allerdings ist der Nachtwächter nicht alleine und ich hoffe mal, dass er neben dem Trinkgeld am Ende der Tour auch ein ordentliches Gehalt bekommt. Mal hören, was es alles zu sehen gibt. Zuerst erzählt er vom Rathaus, ein Kunstwerk der norddeutschen Backsteingotik, zwei Stockwerke, so ziemlich ältestes Profanbauwerk Norddeutschlands, Anfänge stammen von 1310. Fertig. Fertig? Noch lange nicht! Das Rathaus mag nur zwei Etagen hoch sein, aber das sieht man erst mal nicht, denn es versteckt sich hinter einem Schaugiebel, der es höher und imposanter erscheinen lässt, und um Besucher, die vom Hafen kommen noch mehr zu beeindrucken, geht der Schaugiebel um die Ecke und aus einem bestimmten Winkel glaubt man statt der sechs acht aneinander gereihte Spitzgiebel zusehen. Mehr Schein als Sein und genau das hat das Rathaus so berühmt gemacht.
Das Rathaus begrenzt den Alten Markt nach Süden, der Markt war der Ort, an dem man Sachen kaufen konnte, Leute treffen, Informationen austauschen, Menschen an den Pranger stellen oder dem Scharfrichter beim Arbeiten zusehen. Also, etwa so was wie heute das Internet, nur draußen. Gegenüber dem Rathaus steht die Kopie des Rathauses, die heißt Wulflam-Haus und gehörte der Familie Wulflam, Tuchhändler, Hausbauer, Politiker. Das Haus hat einen ähnlichen Schaugiebel wie das Rathaus, allerdings ist der im Laufe der Zeit zu einem Stufengiebel zurückgebaut worden. Es gibt eine große Diele im Erdgeschoss, die früher der Speisesaal war und eine umlaufende Galerie. Im Hof gibt es eine Kemlade, eine Art Wohnturm, wie ich sie kürzlich auch in Trier gesehen habe und ein Brauhaus. Alles hier strahlt Macht und Einfluss aus, Macht und Einfluss der Händler. Stralsund war eine bedeutende Hansestadt, ihren Wohlstand verdankte sie dem Handel.
Weiter gehen wir, an anderen Häusern aus dem 14. Jahrhundert vorbei und gelangen so in die Mönchsstraße, vorbei an einem Haus, das heute ein Hotel ist und einen Wachmönch vor der Tür postiert hat, weiter zum Katharinenkloster, das heute ein Museum ist (https://fraumb-far-far-away.blogspot.com/2016/10/im-katharinenkloster-stralsund-museum.html?m=1) und zum Haus des Kaufmanns Steenhus, das heute auch ein Museum ist (https://fraumb-far-far-away.blogspot.com/2013/09/das-haus-in-der-monchstrae-house-at.html?m=1).
Nun biegen wir links ab und gehen Richtung Jacobikirche, eine der drei großen Kirchen im Stadtzentrum. Die Kirche besuche ich später noch, nun aber kommen wir erstmal vorbei am Haus des Scharfrichters. Der Mann, der sich final um die Missetäter kümmert, die der Nachtwächter bei Ungesetzlichkeiten angetroffen und festgesetzt hat. Gewissermaßen war der Nachtwächter ein Vorfahre unserer Streifenpolizisten. In diesem Haus, das 1289 erstmals urkundlich erwähnt wurde, lebte und arbeitete immer ein Scharfrichter. 1841 starb der letzte Stralsunder Scharfrichter und die letzte Hinrichtung gab es 1855 vorgenommen durch eine Fachkraft von außerhalb.
Hinter der Jacobikirche läuft die Heilgeiststraße lang, die zur gleichnamigen Kapelle mit Spital führt (https://fraumb-far-far-away.blogspot.com/2016/10/sozialer-wohnungsbau-im-mittelalter.html?m=1), dort gibt es auch wieder schöne Giebelhäuser zu sehen, sie sehen deshalb so schön aus, weil die a) schon zum Zeitpunkt ihrer Erbauung schön waren und b) gerade renoviert werden. Da die Renovierung und Instandsetzung mit öffentlichen Mitteln erfolgt, müssen die Mieten angemessen sein, also bezahlbar. Neuigkeiten vom Immobilienmarkt? Fragen Sie den Nachtwächter ihres Vertrauens.
Nun gehen wir wieder in Richtung Alter Markt, an einer Straßenecke weist der Nachtwächter auf einen Prellstein, ein steinerner Ecken- und Kantenschutz, der die Häuserwände vor den eisenbeschlagenen Karrenrädern schützte, das wäre der Stammplatz zweier Prostituierter gewesen, Mutter und Tochter, die, unverschuldet in Not geraten nach dem Tod des Ehemanns und Vaters, hier versuchten, sich Ihr Überleben zu sichern. Natürlich ist es verboten, dass Frauen solch liederliche Dinge tun, in aller Öffentlichkeit, und der Nachtwächter musste sie melden. Eine nahm sich das Leben, eine starb krank im Gefängnis. Das erstere ist geächtet, das letztere ist erlaubt. Die guten alten Zeiten waren für viele Menschen eher nicht gut. Wir kommen vorbei an einer Wand, die von der Stadt als Lehrbuch genutzt wird, viele Relieftafeln erzählen aus der Geschichte der Stadt.
Nun sind wir auch schon wieder am Rathaus, diesmal kommen wir von hinten, durch den Anbau, der aus dem 18. Jahrhundert stammt und dessen Galerie nach dem Vorbild derer aus dem Heilgeist-Kloster gebaut wurde. Hier gibt es auch ein prächtiges barockes Portal aus dem Jahr 1720 und ein noch prächtigeres, das das Westportal zur Nikolaikirche ist (https://fraumb-far-far-away.blogspot.com/2013/09/und-bei-nikolaus-and-nicolai.html?m=1). Im Durchgang zum Alten Markt gibt es eine Büste des Schwedenkönigs Gustav Adolf II, sie wurde der Stadt 1930 geschenkt und sieht, wenn man von hinten kommt, aus wie Mephisto aus Goethes Faust, sorry, Gustav Adolf.
Nun überqueren wir den Marktplatz und gehen in Richtung Schillstraße, benannt nach Ferdinand von Schill, einem preußischen Offizier, der am 26. Mai 1809 die Stadt eroberte, um von hier aus gegen die französische Invasion zu kämpfen, sechs Tage war er erfolgreich, am 31. fiel er in der Fährstraße von einer Kugel getroffen, neben dem Straßennamen gibt es ein Denkmal, einen Gedenkstein und eine Grabstätte, dort ist sein Körper begraben, jedenfalls der größte Teil, den Kopf hatte Napoleon an sich genommen. Als Trophäe. Der Mann war auch seltsam, denke ich gerade.
Nun gelangen wir zum Scheelehaus, Hotel, Restaurant, Wellness, Kaffeerösterei und Geburtshaus von Carl Wilhelm Scheele, der war Chemiker und hat Sachen entdeckt, die es schon lange gab, Sauerstoff, Stickstoff, Chlor, Wolfram, allerdings wusste keiner, dass es dieses Stoffe gab, aber nun erklärt sich vieles. Es erklärt sich immer vieles, wenn man viel weiß. Wir stehen um den Brunnen herum, um den, mit den drei Dienstmägden, die, statt auf ihren überlaufenden Wassereimer zu achten, sitzen und tratschen und mit dem Finger auf Leute zeigen. Wir gönnen es ihnen, viel Pause in ihrem 12-16 Stunden Arbeitstag dürften sie nicht gehabt haben. Aus dem Hotel kommt nun ein freundlicher Kellner und kredenzt uns ein rotes Liquid in Reagenzgläsern, etwas chemisches, fermentiertes, das biophysikalische Reaktionen wie Wohlbefinden und Entspannung im Körper hervorruft, und nein, das ist keine Magie, das ist Wissenschaft und die Reagenz heißt Likör.
Nun ist die Nacht schon etwas fortgeschritten, es ist auch stockfinster, oder wäre es, ohne elektronische Straßenbeleuchtung und wir machen jetzt alle Feierabend, der Nachtwächter auch, weil es hat sich herausgestellt, er ist gar kein Nachtwächter sondern Touristenführer. Und ein sehr guter. Ich habe von uns allen den längsten Heimweg, eine Minute und ich bin in meinem Konsulat-Hotel. Gute Nacht allerseits.
(PS: Wer mehr unterhaltsame und tiefgründige Geschichten über Nachtwächter lesen möchte, dem empfehle ich Terry Pratchett - Geschichten von der Nachtwache)
English version below
It’s summer in Stralsund, summer 2018, and a friend of mine who grew up here, recommended a city walk with the night watch, she said, it’s cool, me, I’m more on my own, will give it a try. I know the place, I can escape anytime.
We meet at Alter Markt (Old Market) at 9pm when it’s still not dark, but the clock says it’s night, so the night watchman has to work. It’s a lonely work, that was installed when the cities were growing in the medieval age. They patrol the streets and lanes and alerted people to enemies, thieves and fire and endeared themselves to the people by shouting the time every hour, not so much to tell the sleeping community when they didn’t need to sleep anymore, but more to prove that he wasn’t sleeping as well. He was allowed to question suspects and arrest them and he watched over the locking of doors and gates. The watchmen did a valued duty to the society, how many houses would have burned to the ground if the man with the lantern, the bell and the halbert wasn’t shouting Fire, Fire, wake up! That’s why he was well paid and got a good reputation like the knacker and the headsman. Not. On the other hand, didn’t change that much nowadays, security staff gets minimum wage and people look down on them.
Today the watchman isn’t alone and I hope, that beside the tip at the end of the tour he gets a good salary too. Let’s hear, what we can see. First he speaks about the city hall, a piece of artwork of the North-German Brick-Stone Gothic, two storey house, one of the oldest secular buildings in northern Germany, built from 1310 and done! Done? No way. The city hall might have only two floors, but you don’t see that from the outside since it’s covered with a kind of fake facade, all the gables you see are only decorative and there are no rooms behind. In German we call it Schaugiebel, maybe affect gables would do as translation. The task of the architecture is to impress the viewer and let the building look even stately. It also goes around the corner and when visitors come from the port side and watch from a special angle it looks like the city hall got eight instead of six pointed gables. It’s all surface, but that’s exactly what made the city hall famous.
The city hall is the south end of the Alter Markt, the marketplace was the place were you could buy stuff, meet folks, share information, pilloried others and watch the headman do it’s work. It’s a bit like the internet today, only outside. Opposite the city hall is a copy of the city hall and it’s called Wulflam-House, because it was owned by the Wulflam family, the have been drapers, house builders, politicians. The house had a similar Schaugiebel like the city hall but it was turned into a step gable due to construction issues a while ago. There is a big hallway in the basement what was a dining room once and a gallery around the room, and in the backyard is a Kemlade attached, a medieval living tower like those I saw lately in Trier and a brewery. Everything displays power and wealth, the power and wealth of the merchants, that is what made Stralsund, a Hansa City rich.
We keep on going, along other houses from the 14th century and get into Mönchstraße (Monk Street), along a house that houses a hotel today and got a watch-monk at the entry and then to the St. Katharina’s monastery, what is a museum today (https://fraumb-far-far-away.blogspot.com/2016/10/im-katharinenkloster-stralsund-museum.html?m=1) and to the house of the merchant Steenhus, what is a museum too (https://fraumb-far-far-away.blogspot.com/2013/09/das-haus-in-der-monchstrae-house-at.html?m=1).
Now we turn left and walk towards St. Jacob’s church, one of the three big churches of the city, I will visit it later, but first we see the house of the headsman. The guy who took final care of those delinquents the night watchman found doing illicitness and arrested them therefore. The house is first mentioned on a document in 1289 and until the last headsman died in the 1841 it was the living and working place of them. The last execution was in 1855, done by an external professional.
Behind the St. Jacob’s church goes the Heilgeiststraße (Holy Spirit Street) and that leads directly to the chapel and asylum with the same name (https://fraumb-far-far-away.blogspot.com/2016/10/sozialer-wohnungsbau-im-mittelalter.html?m=1), there again are beautiful gable houses to be seen, beautiful because they a) have been built like that and b) are fresh renovated. Renovation and maintenance are financed by the public and that needs to be show in the rent costs, that means they must be affordable. Questions about the real estate market? Ask your local night watchman.
Now we are heading back to the Alter Markt, and at a corner with a kerbstone, a stoney cover of the edge of houses to protect the walls from the iron-bound cartridge wheels, the watchman talked about two women working as prostitutes, mother and daughter, which fell in hard times after the death of husband and father and try to make a living here. And of course it’s forbidden to do those shady things in public, forbidden for women especially, and he had to report them, and one was taking her own life, what is ostracised and one died sick in jail, that, at least was allowed. The good old times haven’t been good at all for many people. Nearby is a wall used by the city as a textbook, relief plates telling the story of the town.
Now we are at the city hall again, coming from the back side, an attached part built in the the 18th century, with a gallery that is kind of copy and paste from the one at Heilgeist-Kloster (Holy Spirit Asylum). There is a opulent baroque gateway from 1720 and an even more opulent one at the west entry of the St. Nicolai church (https://fraumb-far-far-away.blogspot.com/2013/09/und-bei-nikolaus-and-nicolai.html?m=1). In the hallway towards Alter Markt is a bust of Sweden king Gustav Adolf II that was given to the city in 1930 by the Swedish government and when you see it from the back it looks like Mephisto from Goethe’s ‘Faust’, sorry, Gustav Adolf.
Now we are crossing the market in direction Schillstraße, named after Ferdinand von Schill, a Prussian captain who took Stralsund on May, 26 in 1809 to organise the fight against the French invasion, he was successful until May 31, then he died in Fährstraße by a bullet in a street fight, beside the street name there is a memorial stone, a statue and a grave side with his body, or with most of his body, Napoleon took his head. As a trophy. This was a strange person indeed, came into my mind.
Now we reach a house named Scheelehaus, hotel, restaurant, wellness, coffee roaster and birthplace of Carl Wilhelm Scheele, he was a chemist and discovered thing they already have been there, like oxygen, nitrogen, chloride, wolfram, but no one knows about those things until they have been discovered and after that many things have been cleared up, that’s how it is, everything is clear when you know everything about it. We are standing around a well, the one with the three maids who are, instead checking that their water buckets doesn’t overflow, gossiping and pointing fingers at people. We don’t mind, maybe it’s their only break on their 12 to 16 hours working day. Out of the hotel comes a friendly waiter proffering us a red liquid in test tubes, something chemical, fermented that causes biophysical reaction in the body, leads to relaxation and wellbeing, and no, it’s not magic, it’s strictly scientific, it’s called liquor.
Now the night is going on and it’s already pitch black, or it would be without electricity and it’s time for Feierabend for all of us, for the night watchman too, since it turned out he isn’t a watchman at all but a tourist guide and a very good one. From all of us I got the longest way home, one minute and I’m at my consulate-hotel, good night everyone.
(PS: For those who are interested in more stories about watchmen, entertaining and profound, I recommend Terry Pratchett - Nightwatch)
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